Sinkender Alltag

Er atmete tief ein. Fühlte dabei ganz bewusst, wie sich seine Lungen füllten, sein Brustkorb sich hob, sich daraufhin senkte und der aufgestaute Druck im Kopf für einen kurzen Moment verschwand. Danach löste er die Hände von seinen Werkzeugen und lehnte sich geräuschlos zurück. In diesem Zustand verharrte er mit geschlossenen Augen einen Moment. Er versuchte die Geräusche im Raum intensiv wahrzunehmen. Kein Mensch sagte hier etwas. Die einzigen Laute waren die von, so war er der festen Meinung, lebenden Toten. Keine Sekunde herrschte jedoch vollkommene Stille. Der Klang dieses eigenartigen Orchesters füllte seine Ohren. Ein klickendes Geräusch gefolgt von einem weiteren. Danach wurde die Symphonie der, so war er ebenfalls der festen Meinung, stumpfsinnigen lebenden Leichen, unterstützt von vielen Tippgeräuschen. Diese waren unregelmäßig, genauso wie die Klickgeräusche. Die einzige Regelmäßigkeit war die Beständigkeit des durchgehenden Auftretens dieser selbst. Kurz wurde an einem Stuhl gerückt, da jemand seine Sitzposition veränderte. Daraufhin erlosch wieder jegliches Geräusch, das auf eine Existenz von Menschen in diesem Raum schließen konnte. Dies war sein kurzes und knappes Klangresümee.

Er seufzte und lehnte sich wieder nach vorne auf seinen Arbeitstisch. Seine rechte Hand fand den Weg zu einer elektronischen Maus und sein Blick fiel auf einen Bildschirm. Dort waren mehrere Anwendungen geöffnet. Ein halbes Dutzend Fenster nebeneinander angereiht. Er verengte seine Augen um sich zu konzentrieren und schloss zwei dieser virtuellen Fenster. Er seufzte wieder. Der Gedanke durchfuhr ihn, dass es eigentlich abnorm war, sich mit seinen Firmenkollegen über das Internet zu verständigen, anstatt mit ihnen persönlich zu sprechen. Aber es machten ja alle hier, beruhigte er sich selbst. Genauso wie alle seine Kollegen hier ganztags Kopfhörer trugen, durch die laute Musik hämmerte. Ein Weg um den Klang des Stumpfsinns zu verdrängen, dachte er sich. Aber er wusste selbst, dass dies nicht der Grund war. Es war eben Unterhaltung. Es war eben Arbeit und es war eben auch sein Leben. Er war eben auch nur einer dieser lebenden Toten, die hier einen Großteil ihrer Zeit verbrachten. Er schüttelte rasch seinen Kopf um diese Gedanken zu verdrängen. Wie ein Hund, der nach einem langen Spaziergang im Regen die Nässe aus seinem Fell abwirft. Nur machte er dies eben nur mit seinem Kopf. Alles andere hätte vermutlich auch dumm ausgesehen, dachte er sich. Er schmunzelte über den Gedanken, sah sich kurz um und betrachtete seine Kollegen. Ein bunter Haufen, der gebannt auf Monitore blickt. Er hatte sie in den letzten fünf Jahren, die er hier arbeitete, lieb gewonnen. Nun, zumindest ein paar davon, dachte er sich und musste wieder grinsen.

Er saß in einem hellen Großraumbüro mitten in der Stadt. Nicht so wie in manchen amerikanischen Filmen zu sehen, hatte hier jeder Arbeiter nur ein zwei Quadratmeter großes Kämmerlein. In seinem Büro konnte er sogar seine Beine ausstrecken, ohne zwangsläufig mit seinem gegenüber sitzenden Kollegen zusammenzustoßen. Er überlegte kurz, musste aber diesen Gedanken wieder revidieren. Die Zusammenstöße mit seinen und den Füßen seines Arbeitskollegen waren bereits öfters vorgekommen. Man hatte sich jedoch mit den Jahren auf eine Rechtsregel der Beine geeinigt und diese klappte ganz gut. Ein Holztisch aus der Ikea-Welt diente ihm als Arbeitsfläche. Ein kleines Rattenstofftier, eine schöne grüne Pflanze, deren Namen er nicht kannte und ein Foto seiner Freundin waren darauf verteilt. Er stand auf und verließ das Büro durch eine Glastür, die er hinter sich wieder schloss. Sonst wäre wohl der ohrenbetäubende Lärm der klickenden Mäuse und tippenden Tastaturen nach draußen gedrungen und hätte die dortigen Insassen zutiefst erschrocken.

Er ging einen schmalen Gang entlang und kam an dem Büro seines Vorgesetzten vorbei. Da auch dieser Raum eine Glastür zum Eintritt besaß, konnte man immer genau sehen was darin vorging, nicht aber was gesprochen wurde. Zu sehen war, dass dort gerade eine Besprechung abgehalten wurde. Deshalb blickte er im vorbeigehen nur flüchtig in den Raum und ging danach den langen Flur entlang Richtung Toilette weiter. Hier waren ständig irgendwelche Besprechungen dachte er sich. Oftmals lediglich interne Zusammenkünfte um anstehende Themen zu bereden. Er war selten zu solchen Terminen eingeladen worden. Er war eben auch nur ein normaler Arbeiter und gehörte nicht zur High-Society der Firma. Ihn störte das ein wenig, da er doch schon einige Zeit hier arbeitete und ebenfalls Anerkennung dafür erhalten wollte. Andererseits war ihm das Recht, da er so zumindest davon befreit war, auch in der Freizeit mit gewissen Menschen seine Stunden zu verbringen. Dies war nämlich fester Bestandteil der oberen zehn Mitarbeiter – regelmäßige Treffen außerhalb der Firma. Damit wird wohl die Gemeinschaft gestärkt, dachte er sich.

Er war inzwischen vor der Toilettentür angekommen und blickte auf das kleine Feld unter dem Türgriff. Es war gefüllt mit roter Farbe. Das Signal, dass hier jemand schneller war. Ein entnervtes Seufzen entfuhr dem 26jährigen. Jedes Jahr wurde die Firma, in der er als Programmierer arbeitete, größer und größer. Die ständige Aufstockung von Mitarbeitern zeigte den stetigen Erfolg der Firma. Dieser Umstand war für die Geschäftsführung positiv und für einen Großteil der Mitarbeiter mit dem sicheren Gefühl verbunden, einen sicheren Arbeitsplatz zu besitzen. Ein negativer Umstand war allerdings, und das betraf sowohl die Geschäftsleitung, Mitglieder der Firmen-High-Society und den normalsterblichen Mitarbeiter, die dadurch steigenden Wartezeiten vor der Toilette. Es gab zwar für Herren und Frauen getrennte Toiletten, da aber die Firmenchefs für eine ausgewogene Geschlechtermischung sorgten, gab es für so ziemlich jeden Mitarbeiter beziehungsweise jede Mitarbeiterin Wartezeiten vor dem stillen Örtchen. Wobei man sagen muss, dass es nicht immer sehr still darin war. Manche Kollegen pflegten dort nämlich stundenlange Privatgespräche mit ihren Partnern, den Tanten oder den Eltern zu führen. Herren- und Frauentoiletten lagen zwar getrennt, trotzdem aber direkt nebeneinander. Und da in dieser Firma meist die interessantesten Telefonate auf der Damentoilette geführt wurden, konnte auch der gegenüber gerade beschäftigte Herr ein bisschen etwas von der Privatsituation der gerade plappernden Kollegin erfahren. Stefan hatte auf diesem Weg zum Beispiel schon erfahren, dass Nadine furchtbar viel Stress mit ihrem Ex-Freund hatte, der sie nicht in Ruhe ließ. Oder dass Marlenes Mutter eine ganz nette, aber trotzdem sehr verzweifelte Person war. Ach und da war ja noch Doris, die immer wieder lautstark alle Regeln eines stillen Örtchens brach in dem Sie mit ihrem Mann über alltägliche Probleme stritt. Zum Beispiel, dass er ja auch mal Danke sagen könne, wenn sie das Essen gemacht hatte oder zumindest mal zugeben könne, auch einen Fehler gemacht zu haben. Viele interessante und auch traurige Geschichten spielen sich auf solchen stillen Plätzen ab.

Stefan fühlte sich immer unwohl, wenn er vor der verschlossenen Toilettentüre warten musste. Inzwischen passierte das hier zu jeder Uhrzeit. Dies ersparte einem aber nicht die kurzen Gespräche, die man beim Rollentausch mit den Leuten führen musste, die gerade die Toilette verließen. Entweder grüßte man sich oder machte einen kurzen Witz. Geredet musste aber werden. Und so passierte es auch als endlich die Tür aufging und ein Mann im mittleren Alter heraustrat. Seine langen Haare waren zu einem Zopf nach hinten gebunden. Er roch nach einem billigen Deo und trug ein T-Shirt. Unter Programmieren war es Mode geworden schwarze Shirts zu tragen, auf denen eine Information für die Außenwelt platziert war. Zum Beispiel eine Werbung für das geliebte Betriebssystem, der Beweis, dass man auf einem Programmierevent war oder auch nur der Name der Lieblingsband. Eine nette Art um andere Leute mit Dingen zu belästigen die sie vermutlich nie wissen wollten. Eine verkrampfte Art um sich künstlich interessanter zu machen, fand Stefan. Aber immer noch besser als mit Standardklamotten von H&M herumzulaufen, mit der jeder Kleinstadtkriminelle schon Angst und Schrecken auf der Straßenkreuzung verbreitet. Er selbst hatte schon die Lust verloren seinen Körper mit neuen Textilien einzukleiden. Er besaß drei Jeans, ein paar T-Shirts und ein paar einfarbige Pullover. Seit sicher einem Jahr hatte er schon kein Bekleidungsgeschäft von innen gesehen und das Bedürfnis diesen Umstand zu ändern, trat irgendwie auch nicht ein. Man könnte denken, er war zufrieden mit seinem Outfit. Die Wahrheit war, dass es ihm nur egal geworden war.

Der nach Billigdeo riechende Mann hatte jedenfalls sein Geschäft verrichtet und begrüßte Stefan mit einem langgezogenen „Haaaalloooo“. Ein „Haaaalloooo“ bei dem man ganz tief einatmet bei der Betonung des A und ganz tief ausatmete bei dem Buchstaben O. Diese Form der Begrüßung verwendete man meist, wenn man Leute schon lange nicht mehr gesehen hatte und sich über das Treffen sehr freute. Nach einem knappen „Hallo“ von Stefan, folgte die Frage seines Gegenübers, wie es ihm mit dem Kunden Ruzeck gehe. Er antwortete, dass alles im grünen Bereich sei und er diese Woche sicher noch fertig werden würde. Stefan hielt seine Termine meist ein und war für seine flinke Arbeitsweise bekannt. Dies war seit fünf Jahren so und brachte Stefan manchmal ein Gefühl des Stolzes ein. Trotzdem stellte sich immer wieder der Moment ein, an dem er sich fragte, warum er sich das ganz schnelle Arbeiten eigentlich antat. Je forcierter er nämlich arbeitete, umso rascher bekam er auch wieder neue Projekte. Das hatte auch mit dem Wachstum der Firma zu tun. Es gab viel Arbeit und diese musste erledigt werden. Genau deshalb brauchte man viele neue Mitarbeiter und ja genau deshalb gab es Warteschlangen vor der Toilette und Fragen von Kollegen die gerade aus diesem kamen, was denn nicht mit diesem oder jenen Kunden sei. Verlegenheitspuffer.

Der Deotyp wurde firmenintern „Rooter“ genannt. Rooter, der eigentlich Martin hieß, war in seiner alten Firma Netzwerktechniker. Er war oberster Chef über alle Netzwerkstecker, Server und all diesen Kram. Technisch gesehen das Obigste der Firma. Und da man das höchste Verzeichnis einer Datenstruktur auch „Root“ nannte, lag die Verbindung nah, daraus doch einen Namen für Martin zu fertigen. Und da Root alleine zu langweilig war, nannten ihn seine damaligen Freunde eben Rooter. Ganz verstehen musste man diesen Witz natürlich nicht. Es ist eben wie bei den meisten Spitznamen bei Menschen, dachte sich Stefan – sie entstehen und überdauern die Jahre. Auch wenn sie offensichtlich unlustig oder unpassend waren. Zumindest nicht so langweilig wie der eigentliche Name. Stefan war da noch glimpflich davon gekommen. Als er neu in der Firma war sagte jemand lautstark zu ihm „Komm mal Stevie“. Seitdem war auch diese Sache für die restlichen Mitarbeiter beschlossen. In Anbetracht des Glückes das andere Menschen empfanden, wenn sie diesen Namen in den Mund nahmen, konnte Stefan ihnen inzwischen schon gar nicht mehr böse sein. Es gab Schlimmeres. Bürowitze eben. Nach Stefans Aufklärung über den aktuellen Ruzeck-Kunden-Status konnte er endlich die Herrentoilette betreten und hinter sich die Türe schließen.

Rechts neben ihm war ein Waschbecken montiert, darüber ein Spiegel und ein Spender mit Papierhandtüchern. Vor kurzer Zeit hatte der Inhalt dieser Box für großen Gesprächsstoff in der Firma gesorgt. Viele Arbeitskollegen verwendeten zum Abtrocknen ihrer Hände nämlich mehr als eines dieser Papierhandtücher. Manchmal, und das musste man sich erst einmal vorstellen, warfen sie sogar fünf Stück gleichzeitig in den Mülleimer, der darunter stand. Eine absolute Verschwendung wie einer der Chefs empfand. Er schrieb sogar in einer E-Mail an die komplette Belegschaft, dass er gerne bereit wäre jeden einzelnen Mitarbeiter zu zeigen, wie er mit nur einem Handtuch jeden seiner Finger trocken bekommt. Seit diesem Tag jedenfalls wurde der Papierhandtuchspender von Stefan mit mehr Respekt angesehen. Manche seiner Kollegen hatten diese Aufregung allerdings als Ansporn verstanden jetzt noch mehr von den papierlichen Besitztümern der Firma zu verschwenden und so konnte Stefan auch jetzt einige Stöße des Papieres unbenutzt im Mülleimer erkennen. Er grinste.

Links neben ihm waren zwei Türen zu erkennen. Die eine führte zu einer Abstellkammer, in der die Putzfrau ihre Sachen verstaut hatte und die andere war Stefans nächstes Ziel: die eigentliche Herrentoilette. Auch diese Tür schloss er hinter sich ab und setzte sich nieder. Nicht aber auf die Klobrille, sondern auf die geschlossene Kloschüssel. Er atmete tief ein. Sein Herz klopfe schnell und er spürte einen Druck in der Brustgegend. Ganz bewusst atmete er eine halbe Minute gleichmäßig aus und ein. Das Gefühl, dass zumindest ein kleiner Teil der Schwere in seinem Kopf gerade verschwunden war, sorgte für den Bruchteil einer Sekunde für Zufriedenheit. Seit einigen Monaten schon war Stefan mit seinem Leben unzufrieden und er wusste nicht was er dagegen machen sollte. Oder zumindest war er kraftlos und angefroren in seinem Sein. Der Antrieb war weg und der Motor ließ sich nicht starten. Er stürzte immer wieder ab. Diese Phasen hatte man eben manchmal, dachte er sich. Meistens in der dunklen Jahreszeit und meistens genau dann, wenn man sie nicht brauchte. Aber für Stefan war es mehr als ein kurzer Durchhänger. Es war als hätte er nach sovielen Jahren verstanden, dass er einen falschen Weg eingeschlagen hatte. Er hatte die Fehler gesehen, den richtigen Weg angedacht und ihn dann irgendwann wieder aus den Augen verloren. Oder doch aufgegeben. Seit fünf Jahren arbeitete er in dieser Firma. Seit fast 15 Jahren beschäftigte er sich schon mit Computern und seit drei Jahren war er in einer Beziehung. Sein Leben verlief ohne große Zwischenfälle und er war eigentlich auch immer glücklich damit gewesen. Stefans Kindheit war von einer klaren Außenseiterposition geprägt. Keineswegs war diese Zeit allerdings schlimm. Er war nur keiner von den Leuten, die als „normal“ eingestuft wurden. Das hatte sich aber in den letzten Jahren geändert. Er hatte eine Ausbildung, einen fixen Job und eine Beziehung. Und dieser Umstand machte ihn auch immer wieder stolz wenn er daran dachte. Er war ein funktionierender normaler Teil der Gesellschaft geworden. Alles, was früher so schwer war, hatte er gemeistert. Er konnte stolz auf sich sein. Aber auch dieses Gefühl der Stärke war mit der Zeit gewichen.

Stefans Ansichten und Gedanken waren schwer geworden. Immer wieder versuchte er sich für Dinge zu interessieren um Halt zu finden. Zum Beispiel für das Erlernen einer neuen Programmiersprache oder für das intensive Einarbeiten in eine anderwärtige technische Materie. Er bewunderte Menschen, die sich voll und ganz einer Sache hingaben. Immer wieder fehlte ihm jedoch der Antrieb solche Dinge auch längerfristig selbst durchzuführen. Vielleicht war er nicht der Typ dafür. Vielleicht war er aber auch nur zu träge. Er wusste, dass das Problem an ihm lag und an nichts sonst. Trotzdem brachte diese Erkenntnis wenig Erfolg ohne passenden Lösungsansatz. Er atmete noch einmal bewusst ein und stand danach wieder auf. Eine Stunde noch bis zu seinem Feierabend.

Er wusste, dass ihn auch dorthin seine wirren Gedanken tragen würden. Sein Kopf war voll mit bedrückenden Ideen und Problemen. Vermutlich geht es mir einfach zu gut, dachte er sich. In Stunden des absoluten Stresses oder wenn ein geliebter Mensch im Krankenhaus liegt, vergaß man alle seine Sorgen und alles, was Wert hatte, wurde neu sortiert. Aber es musste doch auch einen Sinn im Alltag geben? Einen Sinn fernab von einem Monitor und einer elektronischen Maus. Einen Sinn in Menschen und deren Lachen. Deren Geschichten. Aber für Stefan waren das nur fromme Gedanken, die wenig mit der Realität zu tun hatten. Zumindest mit seiner Realität. Seinem selbst erbauten gedanklichen Gefängnis, durch das er nach so vielen Jahren endlich hindurch blicken konnte. Momentan suchte er verzweifelt nach einem Schlüssel um diesen Ort zu verlassen. Er wollte seine alte Schale aufbrechen und ein neues Leben starten. Stefan hatte allerdings keine Ahnung wie dieses Leben aussehen könnte und ob es ihm Glück und Zufriedenheit bringen würde. Der Sprung ins kalte Wasser machte ihm zu große Angst. Weg von der wohligen Wärme des Alltags zu sein. Gedanklich kann man weit springen, sofern man immer wieder von den schützenden, selbst aufgebauten, Wänden aufgefangen und auch aufgehalten wird. Seine Augen brannten und sein Kopf war schwer.

Mehr als acht Stunden Arbeit lagen hinter ihm. Heute war einer dieser Tage, an denen er unzufrieden mit seiner Leistung war. Eine Leistung, die nicht von anderen Menschen erwartet wurde, sondern lediglich von ihm selbst. Seine Traumvorstellung war es, den ganzen Tag, fast ohne Pause, konzentriert durchzuarbeiten. Es war erstaunlich für ihn, dass er an manchen Arbeitstagen mehr Leistung erbringen konnte, als in anderen Wochen gesamt nicht. Seine eigenen Rekorde immer wieder einzustellen war sein heimliches Ziel. Er prahlte nicht damit oder definierte sich dadurch, aber er wusste, dass er von einigen Leuten dafür bewundert und geschätzt wurde. Nicht zuletzt für die Chefetage waren solche Arbeitskräfte von enormem Wert. Noch lieber wäre es ihnen natürlich gewesen, wenn er seine Geschwindigkeitsrekorde auch noch an die große Glocke gehangen hätte. Dann wäre es möglich gewesen, dass auch andere Mitarbeiter angespornt wären oder andere wiederum, aus Angst um ihren Arbeitsplatz, ebenso fokussiert arbeiteten. Solche leistungsorientierten Mittel wurden in dieser Firma jedoch nur still und heimlich angedacht, niemals aber durchgeführt. Man wollte schließlich ein wunderbar harmonisches Betriebsklima formen.

Stefan öffnete die Tür, ging Richtung Waschbecken und säuberte seine Hände. Danach benutze er genau ein Papierhandtuch und warf es in den Mülleimer. Er richtete sich auf und blickte in den Spiegel. Er selbst fand immer, dass er zu jung für sein Alter aussah. Er hatte das Gefühl immer hinterherzuhinken. Erst mit zwanzig Jahren schien sich die Situation normalisiert zu haben. Er war irgendwann normal geworden. Optisch und was seine sozialen Umstände anbelangte. Sein Gesicht war länglich und markant. Seine Freundin sagte manchmal zu ihm, dass sie genau dieses Profil an ihm liebte. Und trotzdem blickte er in den Spiegel und fand sich nicht ansprechend. Er hatte blondes Haar, das ihm seitlich über die Stirn hing. Ein Friseurbesuch könnte bestimmt nicht schaden, dachte er sich manchmal morgens. Doch dazu fehlten der Antrieb, die Lust und vor allem der Sinn. Nachdem er den kurzen Blick in den Spiegel gewagt hatte, verließ er die Toilette. Aufgrund der vielen wirren Gedanken in seinem Kopf, war er gar nicht darauf vorbereitet, dass auf der anderen Seite der Türe bereits jemand warten könnte. Aus diesem Grund blieb Stefan auch abrupt stehen, griff sich auf die Brust und blickte erschrocken sein Gegenüber an.

Gleich darauf grinste er aber und musste über sich selbst lachen. Das passierte ihm öfters. Er war eine schreckhafte Natur. Besonders was das unvorbereitete Erscheinen von anderen Menschen anging. Vor ihm stand jedenfalls Jemand und grinste zurück. Es handelte sich um seinen Vorgesetzten. Einem nicht gerade groß gewachsenen 40jährigen Mann. Gerne verbrachte dieser seine Pausen im Sekretariat, wo er mit lockeren Witzen ein Lächeln auf jeden Damenmund zauberte. Dieses Mal wurde Stefan mit einem knappen „Hallo“ begrüßt und dem freundlichen Hinweis, dass er doch bitte in das Büro seines Vorgesetzten kommen solle. Er würde gleich nach seinem Toilettengang bei ihm sein. Es gab ein paar Dinge zu besprechen. „Klar“, sagte Stefan und ging wie befohlen in Richtung von Friedrichs Büro.

Das Büro von Friedrich war recht schick eingerichtet. Ein langer Arbeitstisch bot sowohl Platz für den eigenen Laptop, als auch für zwei bis drei Gäste. Für Stefan hatte dieser Raum eine ganz eigene Atmosphäre. Hier hatte er jedes Jahr eine große Besprechung mit Friedrich. Das sogenannte Mitarbeitergespräch. Dort wurde ein Resümee über das vergangene Jahr gezogen und über die Ziele im kommenden Jahr diskutiert. Viel wichtiger an diesen Gesprächen war allerdings, dass jeder Mitarbeiter gefragt wurde, welche Probleme er in der Firma hatte und wo dieser noch Optimierungsbedarf sah. Dies war der Zeitpunkt um endlich seinen Mund zu öffnen und Dinge auszusprechen die schon lange in einem brodelten. Und so hatte Stefan in den ersten drei Jahren immer sein Herz ausgeschüttet. Er hatte zum Beispiel gesagt, dass ihm das Geld zu wenig wurde oder dass er gewisse Strukturen in der Firma nicht optimal sah. Er war offen und ehrlich und am Ende jedes Gespräches hatte er es bereut. Wenn man mit anderen Kollegen sprach stellte sich heraus, dass seine Leichtgläubigkeit ein großer Fehler war. Die meisten hatten nämlich im Vorfeld nur groß geredet, dann aber nicht den Mut gehabt etwas zu sagen. Vielleicht war es aber auch Klugheit und Selbstschutz. Einmal erwähnte sein Chef sogar in einer Bemerkung, dass Stefan eine Art habe, sich sehr schnell über Dinge aufzuregen und manches Mal eine fehlende Distanz zu Problemen zu haben. Das hatte man also davon wenn man seine Meinung und Gefühle aussprach. Irgendwann hatte er verstanden, dass Schweigen Gold wert war und man damit viel besser in einer Firma durchkam. Auch wenn manche meinten, dass diese Vorgehensweise feig und rückradlos sei. Sie verbrannten sich ja nicht die Finger.

Das Fehlen von privaten Fotos auf Friedrichs Schreibtisch fand Stefan eigenartig. Sein Vorgesetzter war verheiratet und besaß zwei entzückende Töchter. Diese Information hatte Stefan allerdings nur durch Zufall erfahren. Scheinbar hielt Friedrich Privates und Berufliches strikt getrennt. Vermutlich sah er sich selbst als Prominenten an, der seine Kinder vor den gaffenden Blicken seiner Belegschaft schützen musste. Vielleicht vermummte er seine Kinder sogar wenn er samstags einkaufen ging. Stefan musste bei diesem Gedanken grinsen. Ein Kind von Friedrich mit einer riesengroßen Sonnenbrille auf der Nase und einer Kappe, die tief ins Gesicht hing. Das andere Kind war mit einer Papiertüte über den Kopf ausgestattet, welches zwei Sichtlöcher für die Augen bereithielt. Der Vater eilte dabei hektisch durch die Gänge des Einkaufszentrums. Immer auf der Flucht vor Paparazzi. Gerade als Stefan gedanklich noch einen drauf setzen wollte (er malte sich einen inszenierten Suizidversuch einer 4-jährigen Prinzessin aus, die mit viel Schminke und der noch immer aufsitzenden Sonnenbrille einen Hilfeschrei absetzte – was für eine Titelstory) kam der Vater der geheim gehaltenen Kinder in den Raum. „Na, wie geht’s?“ fragte er mit freundlicher und zugleich lauter Stimme. Stefan grinste und entgegnete mit „Muss ja“.

„Ich habe heute mit Herrn Zimmermann gesprochen“, startete Friedrich, der sich gerade gesetzt hatte, das Gespräch. „Das Programm, das wir für ihn geschrieben haben, gefällt ihm so nicht. Er hat gesagt, dass er mit dir zu Beginn gesprochen hat und du viele Sachen komplett anders umgesetzt hast. Ich will dir natürlich nicht sagen wie du deine Arbeit machen sollst, aber Abmachungen mit dem Kunden sind einzuhalten. Dieser Auftrag ist sehr wichtig für uns und wir können es uns nicht leisten, dass wir hier das ganze Geld verlieren, nur weil wir die Wünsche des Kunden vergessen“. Stefan merkte, dass sich sein Gesicht rötete und Anspannung in ihm entstand. „Hat er gesagt, was ihm genau nicht passt?“ fragte Stefan, der sich eben geräuspert und seine Position am Stuhl verändert hatte. „Nun ja, der generelle Funktionsablauf der Software ist absolut nicht so wie besprochen. Die Warenwirtschaft hat so keinen Sinn, meinte er. Es gibt Fehler in der Berechnung, die Lagerlisten werden falsch sortiert und am Ende stimmt natürlich dank der Folgefehler gar nichts mehr zusammen“. Friedrich beugte sich nun vor und stützte seine Ellbogen auf dem Tisch auf. „Tja und jetzt haben wir natürlich eine schwere Situation. Der Kunde will einen anderen Ansprechpartner. Da du aber die meiste Erfahrung auf diesem Gebiet hast und“, er stoppte „also, da auch Wolfgang und Patrick momentan keine Zeit dafür haben, würde ich sagen, dass du weiter die Software programmierst, aber den Kundenkontakt übernimmt jemand anderes. Ist das ein Problem für dich?“ fragte er mit einem bestimmenden provozierenden Tonfall. Stefan räusperte sich erneut. „Okay. Mich würde aber interessieren, warum er plötzlich so unzufrieden ist. Wir haben das anfangs genau so besprochen wie es jetzt ist. Wenn Dinge nicht funktionieren, dann habe ich vielleicht zu ungenau getestet, aber der Aufbau ist wie anfangs besprochen.“ „Tja, das sieht leider der Kunde anders und dem muss der Köder ja schmecken und nicht dir oder uns.“ Stefan verharrte und dachte nach. Er hatte die Kundenangaben befolgt und nun wurde dies so hingestellt, als hätte er nach Lust und Laune Dinge anders gemacht. Er blickte geradeaus und sagte in ruhigen Ton „Können wir uns bitte genau ansehen, was nicht passt? Ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Bedeutet nicht, dass ich es ihm nicht glaube, aber ich habe so gehandelt wie ich es für richtig hielt.“ Friedrich lehnte sich zurück und grinste. So verharrte er einige Sekunden. Für Stefan schien diese Dauer ewig zu sein.

Was war denn das hier überhaupt? Seit wann glaubte man einem Kunden mehr als dem eigenen Mitarbeiter, dachte er sich. Er hatte Friedrich auch nie Grund geliefert, solche Ansichten zu haben. Nach einigen Sekunden antwortete Friedlich endlich „Das könnte länger dauern. Ich habe keine Ahnung, was nun genau ausgemacht war. Das haben wir doch schriftlich, oder?“ Stefan nickte mit einer Art, die soviel sagte wie „Natürlich haben wir das.“ Friedrich sah ihn direkt an und griff nach seinem Notebook. Einige Zeit arbeitete er nun konzentriert mit seinem Arbeitsgerät und gab keinen Kommentar ab. Stefan verstand zwar nicht, warum er dies machte, aber fand es auch nicht angebracht nachzufragen. Es war diese beklemmende Stille, die manchmal in Gesprächen einkehrte. Eine Stille, die zumindest einem der Beteiligten die Kehle zuschnürte. Nicht aus Angst, sondern einfach weil man nicht genau wusste, wie es weiterging und man keine falschen Schritte setzen wollte. Der sich unwohl fühlende Part in dieser Runde hieß Stefan. Er blickte kurz aus dem Fenster und betrachtete die Wolken am Himmel. Das Firmengebäude war mitten in der Stadt ansässig. Die einzige sichtbare Natur war der Himmel. Es schien Stefan so, als würde sie in diesem Teil der Welt ein bisschen anders aussehen. Irgendwie gedämpfter. So wie ein Ton, der ganz dumpf klingt. Er blickte wieder zu seinem Vorgesetzten. Sein Blick aus dem Fenster erschien ihm plötzlich wie ein großer Fehler. Als hätte er die Situation im Raum nicht ernst genommen. Er war beruhigt als er sah, dass Friedrich noch immer auf seinen Bildschirm starrte. Stefan begann von der Zahl Fünfzehn rückwärts zu zählen. Danach wollte er Friedrich nach den Grund des Schweigens fragen. Als er bei Sieben angelangt war blickte Friedrich endlich auf. Innerlich erschrak Stefan. Das hatte er nicht geplant. Er war gerade damit beschäftigt sich Sätze zu überlegen, mit denen er das Eis brechen könnte. Aber welches Eis eigentlich? Diese Situation war eigenartig für ihn.

„Nun, ich habe jedenfalls keine Nachricht erhalten“, gab Friedrich genervt von sich. „Das liegt daran, dass es keine E-Mail gab. Ich habe damals mit dem Kunden gesprochen und das Ganze auf einem Zettel notiert. Dort steht eigentlich alles darauf. Bezeugen kann ich es dadurch natürlich nicht. Wir könnten ja mal ein Mikrofon neben unsere Telefone stellen, damit wir die Kunden an ihre Meinung festnageln können?“ Mit diesem Satz wollte er die Stimmung etwas auflockern. Dies gelang jedoch nicht, da Friedrich sichtlich genervt ausatmete. „Na gut. Bei diesem Umfang des Projektes hätte man ein Pflichtenheft erstellen müssen. Warum wurde das nicht gemacht?“ Stefan antwortete stockend „Ich dachte das geht in Ordnung. Mir wurde ja nichts anders gesagt.“ Mit dieser Antwort war er selbst unzufrieden. Er verstand die ganze Fragerei nicht. Eigentlich dachte er bisher, dass Friedrich und der Kunde eine Freundschaft pflegten. Das war auch der Grund, warum das ganze Projekt etwas anders von statten gegangen war. Es gab weder einen richtigen Auftrag, noch ein Pflichtenheft. Die Übergabe erfolgte via Telefonat und auch dort klang alles sehr unprofessionell. Daran war aber doch nicht Stefan schuld. Er hatte schon einmal negative Kritik wegen einem ähnlichen Fall bekommen, als er einen Kundenfreund von Friedrich nach normalen Kriterien behandelt hatte. Ihm wurde dann gesagt, er solle bei solchen Projekten einfach ein bisschen lockerer bleiben. „Na gut“, brachte Friedrich seufzend ein, „das ändert aber nichts daran, dass wir alles neu machen dürfen, weil es dem Kunden nicht passt. Wo ist jetzt eigentlich das Problem? Ich werde einfach Herrn Zimmermann noch einmal anrufen und die Änderungen, die er wünscht, wirst du umsetzen. Den weiteren Kontakt übernimmt dann jemand anderes.“ Stefan war geschockt. Die Sache war an Dreistigkeit nicht mehr zu überbieten. Er wurde hier hingestellt, als wäre er und nicht der Kunde Grund des vorliegenden Problems. Er hatte alles nach bestem Gewissen erledigt. Diese Seite an Friedrich hatte er bisher nicht kennengelernt. Ihm schien sogar so, als würde ein anderer Grund hinter diesem Gespräch stecken. Es bleib ihm nichts anderes übrig als zu nicken. „Na Moment. Wann wirst du das in etwa machen?“ fragte sein Vorgesetzter, der mit dem Thema noch nicht fertig war. „Kommt darauf an wie groß der Umfang ist. Aber ich nehme an Ende der Woche“. Friedrich nickte und sagte dann in einem dominanten Ton „Danke sehr“. Dies war somit das offizielle Ende dieses Gespräches. So als hätte der Schiedsrichter eines Fußballspieles das Match beendet und dazu aber noch gleich zwei rote Karten verteilt, damit er sich einen guten Abgang verschafft.

Stefan fühlte sich angespannt als er wenige Minuten später wieder auf seinem Platz saß. Seine Mitkollegen bemerkten seine Wiederankunft nicht. Oder zumindest veränderte sein Eintreffen nichts an dem Klick- und Tippkonzert welches im Raum herrschte und bei dem jede menschliche Stimme fehlte. Gedankenverloren öffnete Stefan das E-Mailprogramm auf seinem Computer und sah, dass wieder einige Kundenanfragen eingetroffen waren. Dies würde er auf morgen verschieben. Sein Arbeitstag neigte sich dem Ende und er wusste bereits, dass er heute nicht mehr im Stande war konzentriert zu arbeiten. Was war eigentlich gerade passiert? Schlagartig fühlte er sich unverstanden. Es war eine Mischung aus Wut und Schwäche. Allein der Gedanke, dass er an diesem Projekt weiterarbeiten musste, ihm jedoch der Kundenkontakt verwehrt wurde, da er bereits versagte hatte, machte ihn wütend. Vor allem war die Art und Weise für Stefan unverständlich. Es gab schon oft Kunden, die grundlegende Dinge ändern wollten und somit viel Aufwand produzierten. Intern wurde dies allerdings immer locker gehandhabt. Es wurde zusammen gehalten, damit man den manchmal anstrengenden Wünschen der Kunden gerecht werden konnte. Aber diese sonstige Normalität musste heute gesprengt werden. Dieses unzufriedene Gefühl begleitete ihn auch noch die restlichen fünfundvierzig Minuten. Genau um Punkt 17 Uhr stand Stefan auf, schickte sein Arbeitsgerät in den Tiefschlaf und streifte einen hellgrauen Kapuzenpullover über. Er blickte noch zu seinen Arbeitskollegen, bei denen keiner seinen Aufbruch bemerkt hatte. Er überwand sich zu einem lauten „Tschüss, bis morgen“ und verließ das Büro.

Zehn Minuten später stand Stefan bereits bei einer Straßenbahnhaltestelle. Seine Emotion war nun eher einer melancholischen Traurigkeit als einer tobenden Wut gewichen. Er verstand noch immer nicht was er von dem Gespräch mit Friedrich halten sollte. Er wurde beschuldigt und bestraft. Ihm wurde der Kundenkontakt entzogen und trotzdem sollte er noch die Drecksarbeit erledigen und das Projekt weitermachen. Dutzende Autos rasten an ihm vorbei. Sie wischten zumindest einen Teil von Stefans Gedanken kurzzeitig mit sich mit. Ihm war bewusst, dass diese Sorgen, im Vergleich zu wahren Problemen, grobe Unnötigkeiten waren. Trotzdem fand er momentan keinen Weg dieses Gefühl abzustreifen. Nach wenigen Minuten fuhr die Straßenbahn in die Station ein. Für diese Tageszeit war relativ wenig Besucheransturm in dem öffentlichen Verkehrsmittel. Stefan setzte sich hinter ein älteres Paar und kramte in seine Tasche. Mist! Er hatte sein Buch und auch den Mp3-Player vergessen. Vielleicht auch besser, dachte er sich, da er seit wenigen Minuten Kopfschmerzen verspürte. Er blickte hinaus, wo die Häuser und Autos an ihm vorbeirasten. Er bemerkte wie Regen auf das Fenster prasselte. Es hatte etwas Beruhigendes für den 26-jährigen. Schon immer fühlte er sich wohl, wenn ein Gewitter im Gange war und er entweder mitten darin stand, oder dieses in einem schützend warmen Heim betrachten konnte. Ein wirklich warmes Heim war zwar diese ratternde und herum schaukelnde Straßenbahn nicht, aber zumindest lösten die heranbrechende Nacht und der Nieselregen für Stefan eine wohltuende Stimmung aus. Gerade als er im Begriff war die Augen zu schließen und einzuschlummern, wurde es laut um ihn herum. Endstation. Stefans Zielhaltestelle war gleichzeitig die Endhaltestelle der Straßenbahn. Ein großer Vorteil für ihn, da er oftmals während der Fahrt einschlief und durch die vielen lärmenden Menschen die ausstiegen, immer rechtzeitig geweckt wurde.

Er streifte die Kapuze seines Pullovers über und trat hinaus. Er wurde von einer angenehm kühlen Brise begrüßt. Nachdem er über einen Zebrastreifen geeilt war, ging er mit raschen Schritten mehrere kleine Straßen entlang. Kurze Zeit später kam er bei seinem Ziel an, kramte in seinen Taschen nach einem Schlüssel und betrat das Wohnhaus. Er entschied sich gegen die Fahrt mit dem Lift und ging die zwei Stockwerke nach oben. Nach einem kurzen Gang durch den Flur, hielt er bei seiner Wohnungstür und öffnete diese. „Hallo“, rief er während er seine Schuhe abstreifte und die Tür von innen ins Schloss fallen lies. Keine Antwort. Das einzige Geräusch war das einer Dunstabzugshaube und eines Pürierstabes. Seine Freundin kochte. Das dürfte auch den Essensgeruch erklären, der bereits im Treppenhaus zu vernehmen war, dachte er sich. Stefan wohnte nun schon seit zwei Jahren in dieser Wohnung. Sie war geräumig und sehr preiswert. Ein großes Kinderzimmer stand auch bereit. Das war dem Paar damals bei der Wohnungssuche sehr wichtig. Irgendwann bräuchte man schließlich Platz für den Nachwuchs. Außerdem war der Kinderwunsch ein zuverlässiger Joker um rasch eine Wohnung zu finden. Sie hatten sogar überlegt eine Schwangerschaft vorzutäuschen, um dadurch mehr Chancen zu haben, noch schneller etwas zu bekommen. Das wurde ihnen jedoch am Ende doch zu heikel. Die 90m² waren großzügig angelegt für die beiden Berufstätigen.

Marlene, Stefans Freundin, arbeitete halbtags. Die Firma, in der sie als Buchhalterin angestellt war, hatte ihr das eines Tages vorgeschlagen und sie hatte eingewilligt. Marlene meinte, dass dies praktisch sei, weil sie ja später, wenn denn dann mal Kinder hier wären, sowieso auch halbtags arbeiten müsse. Ein perfektes Warm-Up sozusagen. Zum Ausgleich schmiss sie den kompletten Haushalt. Der Grund des Ausbleibens von Nachwuchs war schlicht und einfach die Entscheidung der beiden, dass einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen war. Von der Ansicht, dass man so etwas nicht planen könne, hielten sie recht wenig. Man konnte es nämlich sehr gut verhindern, auch ohne Kondom, Pille und dergleichen, meinten die Zwei. Und so wurde das Thema Kinder zwar immer wieder angedacht, jedoch nie wirklich umgesetzt. Zum Leidwesen der Schwiegereltern beiderseits, die immer wieder fragten, wann sie denn endlich Enkel bekommen würden. Es klang für die Beiden immer so, als würde man die Kinder nur zeugen und zur Welt bringen, damit Papa und Mama zu Oma und Opa wurden und diese eine neue Beschäftigung hatten.

„Hey, hab dich ja gar nicht kommen gehört“, sagte Marlene, während sie Stefan im Vorbeigehen einen Kuss auf den Mund drückte. „Ich bin eben… leise“, grinste er sie an. Marlene gab ihm zu verstehen, dass es gleich Essen gebe und er sich schon setzen könne. Jeden Tag, ohne Ausnahme, war Stefan dankbar dafür, dass sie für ihn kochte. Er war jedoch selten in der Lage ihr das auch zu sagen. Es wäre aber auch egal gewesen. Es gibt Floskeln in einer Beziehung, die klangen nach der Zeit abgedroschen, dachte er sich. Stefan bewunderte die Kochkünste von Marlene trotzdem. Früher hatte sie jeden Tag ein neues Gericht gezaubert. Heute war dies anders geworden. Die große Euphorie von damals hatte sich gelegt und war einem ruhigen, aber stetigen Fortschritt gewichen. Stefan wusste, dass er dadurch verwöhnt war. Gab es an einem Tag nur Nudeln, war er genervt davon, da dies ja ein Gericht war, das sogar er in wenigen Minuten zubereiten konnte.

Marlene betrat das Esszimmer und servierte einen Käseauflauf. „Wie war‘s heute?“, fragte sie, nachdem sie sich aus der Auslaufform eine Portion genommen hatte. „Irgendein Kunde hat sich aufgeregt und Friedrich ist mir deswegen komisch gekommen. War irgendwie eigenartig“. Eigentlich wollte Stefan seiner Freundin die ganze Geschichte erzählen. Ihr sagen wie er sich dabei gefühlt hatte, als er so überrumpelt wurde, ihr erklären, dass er mit einem flauen Gefühl im Magen an morgen dachte. Aber er machte es nicht. Auf das ehrlich interessierte Nachfragen von ihr reagierte er nicht. Er stocherte in seinem Essen herum und spürte wie keinerlei Freude in ihm war. Sogar das Essen wurde heute zur Hürde. Er musste diesen Teller zusammenessen und da war ja auch noch der Salat. Marlene wollte er davon nichts erzählen, weil er Angst hatte, dass er dadurch die Sache nur noch schlimmer machen würde. Oft passierte es ihm, dass er Dinge zu sehr thematisierte, bis sie irgendwann zu einem echten Problem heranwuchsen. Stefan wechselte das Thema. Irgendwann war auch sein Teller leer geworden. Einen Nachschub wollte er nicht. „Ich muss heute noch zu Charlotte. Ihr Freund ist wieder ausgerastet und sie überlegen, dass sie Schluss machen“. Dieses Mal war ihr Freund betrunken nach Hause angekommen und sie hatte davon nun endgültig die Schnauze voll. Stefan nickte und musste grinsen.

Charlotte war die beste Freundin von Marlene und ständig in einer Krise mit ihrem Lebenspartner. Sie wechselten sich fleißig mit dem Schluss-Machen ab. Und weil man natürlich bei jedem Mal streiten glaubt, dass es nun aber wirklich endgültig und ohne Kompromisse vorbei ist, muss die beste Freundin natürlich Trost spenden. So ist es schon fast zur monatlichen, manchmal sogar wöchentlichen, Routine geworden, dass sich die beiden Frauen trafen und besprachen wie es weitergehen sollte. Während dieser Treffen blieb Stefan immer alleine zu Hause und genoss die Ruhe. Auch wenn ihm die Abwesenheit von Marlene natürlich störte. Sie hatten ohnehin nicht viel Zeit zusammen. Oft ging sie mit Freundinnen abends aus, besuchte irgendeinen Kurs, versuchte es wieder mit einem neuen Sportverein, einer neuen Sportart, oder ging Einkaufen. Nach einer Zeit wird so etwas eben normal sein in einer Beziehung, dachte er sich. Jeder geht seinen eigenen Weg und lebt seine Wünsche und Träume. Der Partner ist dabei der feste Anker, an den man sich immer wieder festhält. Wie das große weite Meer, in dem man immer wieder ein wenig raus schwimmt, dann jedoch umkehrt und sich mit einem warmen Handtuch am Strand abtrocknet. Zumindest beiden schien nichts abzugehen, da sie diesen Weg bewusst eingeschlagen hatten. Anfangs unternahmen sie noch sehr viel gemeinsam, aber Stefan interessierten die meisten Dinge inzwischen nicht oder nicht mehr, da er manchmal viel lieber für sich war. So hatte es sich eingeschlichen, dass sich die beiden nur mehr begrenzt sahen. Beim Essen, manchmal am Abend und eben beim Aufwachen morgens. Unternehmungen waren zur Seltenheit geworden.

Inzwischen war aus dem Nieseln am Spätnachmittag ein stürmischer Regen geworden der laut gegen die Fenster prallte. Eine halbe Stunde später war Stefan alleine in der Wohnung. Nachdem er das Geschirr in den Spüler gegeben hatte und einen Teil der trockenen Kleidung von der Wäscheleine genommen hatte, ging er in das Kinderzimmer, das momentan sein Arbeitszimmer war. Er setzte sich zu seinem Notebook und sah eine Weile auf das Display ohne etwas zu tun. Nach fünfzehn Minuten verließ er, ohne etwas auf dem Computer getan zu haben, den Raum. Im Wohnzimmer legte er sich auf das Sofa und schaltete den Fernseher an. Eine Stunde später entschied er, schlafen zu gehen, da er mit sich und dem restlichen Tag nichts mehr anzufangen wusste. Als seine Freundin um fünf vor elf das Schlafzimmer betrat, hatte er bereits geschlafen. Sie weckte ihn, indem sie ihre gerade ausgezogene Hose so wuchtig gegen den stummen Diener warf, dass dieser umfiel. Nach einer kurzen Begrüßung erzählte Marlene Stefan wie es gelaufen war. Charlotte hatte nun eingesehen, dass so ein Ausrutscher ihre Beziehung nicht zerrütten könne. Die Welt drehte sich also endlich wieder und man konnte nur warten, bis sie das nächste Mal stehen blieb. Dort aber dann sicher wieder für ewig! Stefan sprach noch eine Weile mit Marlene, bis sie sich eine gute Nacht wünschten. Marlene schlief kurze Zeit darauf ein. Stefan allerdings fühlte sich nicht mehr müde. Er drehte sich im Bett, damit er das Gesicht seiner Freundin sehen konnte. Der Mondschein hatte einige Zentimeter ihres Gesichtes erhellt. Stefan beobachtete sie eine Weile und verlor sich abermals in Gedanken. Die Beziehung mit Marlene war nicht optimal, das war ihm klar. Irgendwann hatte man verlernt den anderen genauer anzusehen. So zu sehen wie man sich gesehen hatte, als man sich noch nicht so genau kannte. Als man noch nicht gemeinsam den Alltag meisterte und vergessen hatte den anderen zu bemerken. Das Zeigen der Liebe war zu einem stummen Dialog geworden. Stefan drehte sich leise auf den Rücken und blickte nach oben.

Er atmete tief ein und dachte wieder an die Firma. Er war wütend, dass ihn so eine Lappalie derart ärgern konnte, dass er über mehrere Stunden an nichts anderes hatte denken können. Er freute sich nicht auf den morgigen Arbeitstag. Er würde pünktlich aufstehen, in die Arbeit fahren und dort auf seinem Rollsessel Platz nehmen. Mehr als neun Stunden würde er auch dort verbringen und auf einen Monitor starrend irgendwelche Dinge tippen oder anklicken. Er schloss die Augen und öffnete sie nach wenigen Sekunden ruckartig. Nein, so musste es nicht weitergehen! Er wollte raus aus diesem Alltag. Ihn sprengen. Was war das für ein Leben geworden? So vieles hatte an Wert verloren und so vieles erschien farblos und tod. Seine Arbeit, seine Gedanken – irgendwann hatte sein Verstand da nicht mehr mitgemacht, dachte er sich. Stefan stand auf und verlies schleichend das Schlafzimmer. Sein Herz pochte schneller als gewohnt als er im Wohnzimmer ankam. Er öffnete ein großes Fenster und wurde von einer angenehmen Brise begrüßt. Stefan ballte seine Hände zu Fäusten und starrte ziellos in die Ferne. Da draußen gab es doch noch soviel. Soviel außerhalb dieses Alltags, in dem er lebte. Aber wie sollte er seinen derzeitigen Alltag beenden, fragte er sich. Er wollte nur raus, hatte aber keine Ahnung wohin. Raus aus diesem Etwas, das er Leben nannte. Ein heftiger Windstoß lies Stefan aufschrecken. Ihm wurde kalt und er schloss das Fenster. Er setze sich auf das Sofa und atmete ruhig ein und aus. Warum war er so aus der Bahn geworfen? Es war wohl eine Art Lebens- und Sinnkrise, dachte er sich. Er hatte diesen Zustand schon des Öfteren empfunden und immer wieder hatte er sich motiviert und weiter gemacht. Genau davor hatte er jetzt aber Angst. Weitermachen hieß vermutlich aufzugeben. Sich dem stumpfen Alltag hingeben. Dem Alltag, den er vor sechs Jahren begonnen hatte. Weiter zu machen und blind zu werden für die wahre Schönheit des Lebens. Klar konnte man auch mit diesem Job, dieser Freundin und dieser Wohnung Spaß haben. Man konnte sich schließlich für alles motivieren. Aber es musste doch noch mehr geben. Andere Berufe, die einen stärker innerlich ausfüllten, zum Beispiel. Stefan blickte im Raum umher.

Das einzige, was er seit sechs Jahren getan hatte, war seinen eigenen materiellen Status zu steigern. Viele Menschen tun das. Es ist wohl einfach eine Krankheit, die kommt, wenn man keine Armut kennt und im Überfluss lebt. Vor einem halben Jahr hatte Stefan beschlossen sich im Wohnzimmer einen großen Fernseher mit Anlage zu gönnen. Jetzt standen diese Elektroteile vor ihm. Am liebsten hätte er alles genommen und sofort zerstört. Er hatte momentan das Gefühl, seit sechs Jahren einer Illusion hinterher gerannt zu sein. Dinge, die nutz- und wertlos waren, zu bunkern. Dinge, die keinen Bestand hatten, außer dem das eigene Königreich weiter auszuschmücken. Blind jedoch für soviel andere Dinge. Er schüttelte heftig den Kopf. Aus. Aus. Diese Gedanken. Stefan hatte immer wieder diese Phasen, an denen er sich vor seinem Leben ekelte. Er hatte Marlene davon erzählt und sie meinte immer, dass er endlich wieder die Augen aufmachen soll, für die vielen schönen Dinge, die einem das Leben bietet. Lachende Menschen zum Beispiel, oder ein schöner Abend mit Freunden. Oder auch nur die Natur. Aber warum fühlte er sich dann so leer? Er hatte doch bereits die Augen weit aufgemacht und manchmal bereute er das. Stefan vergrub seinen Kopf in die Hände. Seine Unterlippe begann zu zittern und wenige Sekunden später weinte er. Es gab für ihn Tage, an denen hatte er das Gefühl klarer zu sehen. Irgendwann hatte er für sich beschlossen, dass es besser für ihn wäre doch einfach lockerer zu werden und nicht ständig alles zu hinterfragen. Doch in Momenten wie diesen holte ihn alles ein, zumindest fühlte er sich so. Er bekam die Ohrfeige, die er verdient hatte. Er saß noch einige Zeit am Sofa und dachte nach. Wirre Gedanken. Verzweifelte Gedanken. Kurz aufleuchtende Motivation und eine harte Ernüchterung.

Als um halb sieben morgens sein Wecker klingelte, hatte er lediglich drei Stunden geschlafen. Stefan wusste, dass er mit der gestrigen Nacht seinen momentanen Tiefpunkt erreicht hatte. Heute würde sich das ändern. Heute würde alles anders werden. Um fünf Minuten vor Acht betrat Stefan das Büro. Er hatte wegen dem gestrigen Gespräch noch immer ein eigenartiges Gefühl im Bauch. Er war morgens meist einer der ersten hier. Unter Programmieren war es üblich lange zu schlafen und erst spät abends nach Hause zu gehen. Für manche war dies schon fast zu einem Art Lebensstil geworden. Genauso wie sich diese Leute gut fühlten, wenn ein Energy-Drink oder ein Kaffee direkt neben ihrer Tastatur stand. Am besten sogar, wenn davon mehrere standen. Sodass man sah, dass hier viel gearbeitet und viel künstlich am Nicht-Einschlafen gehindert wurde. Auch Stefan ertappte sich oft, dass er bereits solche Muster angenommen hatte. An Tagen, an denen er über mehrere Stunden hinweg konzentriert an einem Programm arbeitete, fühlte er sich in eine andere Welt versetzt. Eine technisierte Welt in der nur die Produktion, das Handeln und das Perfekte Bestand hatte. Wo immer eine Uhr tickte und man schneller und noch schneller werden musste, um bestehen zu können. Er mochte dieses Gefühl, auch wenn es irreal war und er niemals mit jemand darüber sprach.

Die ersten Arbeitsstunden dieses Tages vergingen rasch. Friedrich könnte jederzeit mit den Änderungen von Herrn Zimmermann zu ihm kommen und so beschloss Stefan Kleinigkeiten abzuarbeiten, die sich im Laufe der Wochen angesammelt hatten. Er merkte, dass er unkonzentriert war. Vielleicht sogar nervös.

Um 9 Uhr 48 blinkte auf Stefans Monitor das Nachrichtensymbol. Stefan wusste wer ihm geschrieben hatte, bevor er auf das Symbol geklickt hatte. Friedrich bat Stefan zu ihm ins Büro zu kommen. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Er fragte selbst warum er dieses Gefühl hatte und konnte es sich nicht beantworten. „Also, ich hab gerade mit Herrn Zimmermann telefoniert“, begann Friedrich das Gespräch ohne Stefan zu begrüßen. „Im Grunde ist alles neu zu machen, weil er sich jetzt, aufgrund der bisherigen Arbeit, ein Konzept überlegen konnte, da ihm ja unseres nicht gefallen hat.“ Stefan nickte und setzte sich, ohne etwas zu sagen. Er spürte den gepolsterten Sitz, die Kühle der Lehnen und den Widerstand an seinem Rücken. Er blickte auf und sah nicht seinen Vorgesetzten an, sondern betrachtete den Himmel, auf dem die Wolken vorbeizogen. Es war sonnig und nur wenige Wolken waren zu erkennen. „Wichtig ist ihm, dass wir das neue System mit seinem alten verbinden. Du musst also eine Schnittstelle schreiben und der Aufbau sollte ähnlich sein. Der einzige Unterschied soll im Groben darin bestehen, dass das jetzige System für die Zukunft ausbaufähig sein soll.“ Stefan atmete ruhig ein, sah Friedrich genau ins Gesicht. Er wirkte müde und gestresst. Da er einen Anzug trug, war davon auszugehen, dass er heute noch Kundentermine vor sich hatte. Der oberste Hemdknopf war geöffnet. Auf der Stirn stand Schweiß und Anspannung. „Gleich vorweg für dich – bis Ende nächster Woche sollte der Großteil fertig sein. Das müsstest du schaffen, wenn du andere Projekte derweil nach hinten schiebst. Die Oberfläche übernehmen wir von der Struktur wie gesagt von seinem alten System. Mach es halt etwas frischer, sodass man merkt, dass es nachbearbeitet wurde, du weißt schon was ich meine.“ Er räusperte sich, blickte Stefan an und wartete kurz auf eine Reaktion. Als er diese nicht erhielt fuhr er fort. „Er schickt uns im Laufe des Tages noch eine genaue Aufstellung mit den gewünschten Teilbereichen, die wir einbauen sollen. Du kannst bis dahin ja schon…“ „Ich kündige hiermit.“ Stefan bemerkte wie die Worte seinen Mund verliesen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er sich selbst von außen. Als hätte er seinen Körper verlassen, um bei seinem eigenen Schauspiel in der ersten Reihe zu sitzen. Er hatte nicht viel über diesen Satz nachgedacht. Er hatte dies hier nicht geplant, sondern war lediglich einer Emotion gefolgt. Hatte ihr nachgegeben und etwas getan, das er nie für möglich gehalten hatte. „Bitte was?“ fragte Friedrich, der augenblicklich mit seinem Sessel nach vorne gerückt war und sich zu Stefan gebeugt hatte. „Ich kündige. Ich glaube, es ist Zeit für mich zu gehen. Das tue ich jetzt also auch“, sagte Stefan und stand auf. Er fühlte sich stark und gleichzeitig zerbrechlich. Er sah wie Friedrich mit offenen Augen zu ihm hochsah und sich ebenfalls erhob. „Und warum, wenn ich fragen darf?“ Die Stimme klang dumpf und weit entfernt. Er hörte wie er etwas antwortete wie „Tschüss“.

Stefan verließ den Raum ohne noch zurück zu sehen oder auf die noch folgenden Worte von Friedrich zu hören. Er betrat sein Büro nur kurz um seinen Rucksack zu nehmen. Er blickte auch nicht auf um sich von seinen Kollegen zu verabschieden. Er ging einfach hinaus auf den Gang. Vorbei an den ganzen Arbeitsplätzen. Vorbei an seinem Vorgesetzten der ihn fassungslos anstarrte. Dieses Kapitel sollte nun zu einem Ende gekommen sein.

Fliege, wenn du das Gefühl hast, springen zu müssen.
Blicke nach vorne, wenn du Angst vor der Wärme hinter dir hast.
Atme ein, wenn du Leben willst. Atme.

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