Kalte Einsicht

Er drehte den Schlüssel im Wohnungsschloss um und betrat mit lauten Schritten den Vorraum des Hauses. Er hörte das Geräusch von spielenden Kindern in einem der angrenzenden Räume. Ihm war nicht nach Begrüßungen zumute und er hatte auch keine Lust auf sonstige Konversationen. Er legte den Aktenkoffer ordentlich in eine Ecke und stieg aus den teuren Designerschuhen. Seine Frau war wohl gerade in der Küche um das Abendessen zuzubereiten. Genau aus diesem Grund mied er nun diesen Raum. Er wollte Ruhe haben.

Wenige Minuten später war er im Schlafzimmer angekommen. Er öffnete die Manschettenknöpfe seines weißen Hemdes und krempelte es bis zu seinen Ellbogen hoch. Erst jetzt bemerkte er seine hektische Atmung und den erhöhten Herzschlag. Er schloss die Tür des Zimmers und öffnete den obersten Knopf am Kragen seines Hemdes. Er ging zurück und setzt sich auf eine Bettkante, stütze die Hände auf seine Knie und vergrub seinen Kopf darin.

Um ihn herum wurde es dunkel. Schwarze Leere durchdrang ihn. Wohin führte sein Lebensweg überhaupt? Warum fühlte er sich nicht mehr selbst? Warum funktionierte er lediglich wie ein kleines Zahnrad in einer riesengroßen tickenden Uhr des Gleichsinns? Warum spürte er gerade diesen süßen Schmerz in seiner Brust? Wohin war er gelaufen und warum hatte er sich dabei niemals umgedreht? Was war der richtige Pfad? War es verwerflich sich dem hinzugeben, was einem gut erschien, trotzdem dass es nicht tiefsinnig und neu war?

Ein Schluchzen fuhr aus der Zuflucht seiner Hände empor. Er schloss die Augen noch intensiver und versuchte sein raues Gesicht tiefer in sich selbst zu verstecken. Ein gut bezahlter Job, eine schöne Frau und zwei wundervolle Kinder machten sein Leben aus. Darüber gestreut noch viele materielle Dinge, die ihm irgendwann einmal wichtig erschienen. Ein teurer Wagen, ein großes Haus und Designerklamotten schufen eine sichere Fassade um ihn herum. Er fand es niemals falsch. Niemals verwerflich.

Er hatte all das aufgebaut, was ihm von seinen Eltern vorgelebt wurde. Trotzdem kannte er sie nicht wirklich. Mit ihnen Smalltalk zu führen, über die Arbeit und die eigenen Kinder zu sprechen und ab und an über ein Wehwehchen zu klagen, war nicht gerade dass, was man eine tiefe Bindung zu Menschen nannte. Er hatte es akzeptiert, da er es nicht anders kannte. Ein weiteres Schluchzen durchfuhr seinen Körper. Der tiefe Schmerz der drückend an sein Herz pochte meldete sich wieder zurück. Er hätte so gerne mehr aus dem bisherigen Weg gemacht, dachte er sich. Warum war er so schwach und voller Angst gewesen seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen? Warum hatte er aus Stolz und Furcht den Weg niemals bestritten der eindeutig der richtige gewesen wäre? Warum hatte er diese Schutzmauer errichtet die er ihnen immer wieder präsentierte? Weil es normal war, oder weil es leichter war?

Er bemerkte gar nicht, dass sich die Tür des Schlafzimmers leise öffnete. Erst als eine Hand sanft seinen Rücken berührte sah er auf. Seine Augen waren gläsern und starr, seine Lippen zitterten und seine unrasierten Wangen wirkten angespannt. „Hey, was ist passiert?“ Er blickte kurze Zeit starr geradeaus. Danach senkte er seinen Kopf und sah in ihre Richtung. Als er das erste Wort sagte, merkte er wie dunkel und hart, aber gleichzeitig schwach und sensibel seine Stimme klang.

„Mein Vater ist gestorben. Verkehrsunfall. Heute. Ich weiß nicht ob ich das schaffe. Ich weiß nicht ob ich das überstehe. Ich weiß nicht mehr wer ich bin. Ich weiß es einfach nicht mehr…“