Eine Rezension des Buches „Stille Wut“ von Sergio Bizzio
2004, 240 Seiten
Das Blut in seinen Adern gefror. Es war gut möglich, dass im Haus noch jemand wach war. Sofort schloss er die Kühlschranktür, hielt das Teller mit Essen in der rechten Hand fest und schlich zum Treppengeländer. Er verharrte um eventuelle Geräusche zu hören. Stille. Langsam ging er Stufe für Stufe nach oben. Im ersten Stock angekommen, vernahm er ein leises Schluchzen aus ihrem Zimmer. Er durfte nicht stehen bleiben, heute nicht. Mit schnellen Schritten, bemüht keinen Laut zu machen, eilte er weiter. Als er zwei Stockwerke später in seinem kleinen Zimmer, in der Mansarde des Hauses, angekommen war, atmete er langsam aus, um sich zu beruhigen. Seit seiner Ankunft hatte sich nichts in diesem Raum verändert. Dies hätte auch nicht passieren dürfen.
Es war Mord, der Bauarbeiter José María dazu zwang, stumm und unsichtbar zu werden. Um der Polizei und somit einer Zukunft hinter Gittern, zu entkommen, flüchtete er in eine Villa. Das Anwesen ist für ihn nicht gänzlich neu, da seine Geliebte Rosa seit zwei Jahren als Hausmädchen dort arbeitet. Mehrere Stockwerke des Gebäudes stehen seit Jahren leer und so beschloss María als Versteck, ein Zimmer in der obersten Etage zu benutzen.
Marías erste Stunden in der Villa
Schnell wird ihm klar, dass er den Kampf gegen die drohende Stille des kleinen Raumes nicht ewig ertragen kann und so macht er sich auf den Weg, um mehr über die Bewohner des Hauses zu erfahren. Stets mit sicheren Abstand zu diesen, belauscht er ihre Gespräche und registriert jede ihrer Bewegung. Tätigkeiten wie der Toilettengang, das Duschen oder das Auftreiben von Essen, müssen von nun an gut geplant werden. Im Mittelpunkt seiner obsessiven Erkundungen, steht allerdings Hausmädchen Rosa, deren Leben, Wut, Trauer und Eifersucht ihn ihm auslösen.
Kurz vor Weihnachten, erhalten Herr und Frau Binder, die Besitzer des Hauses, Besuch von ihren Verwandten. Für José María wird es ab diesem Zeitpunkt immer schwieriger, seinen Wissensdurst über Rosas Alltag zu stillen und gleichzeitig unentdeckt zu bleiben. Er kann lediglich machtlos zusehen, als seine Geliebte von einem der Besucher bedrängt und später womöglich sexuell missbraucht wird. Marías ungehörte Wut wird immer stärker, seine abendlichen Gänge durch das Haus länger und seine Sehnsucht nach Rosa immer größer. Wochen, Monate und später sogar Jahre vergehen, in denen er immer wieder neue Rückschläge hinnehmen muss. Getrieben von Eifersucht und Zweifeln, nimmt er später sogar telefonisch Kontakt mit ihr auf und versuchte mit den wenigen Mitteln die ihm bleiben, für Gerechtigkeit zu sorgen. Für Rosa, aber auch für ihn.
Mit klaren Sätzen konstruiert Sergio Bizzio in “Stille Wut” den Alltag eines Menschen, der eigentlich nicht hier sein dürfe. Die Dialoge sind kurz, die Empfindungen von María sachlich, die Geschichte fesselnd. Einzeln auftretende Ungereimtheiten im monatelangen Versteckspiel, erschweren die Geschichte nicht und erinnern vielleicht sogar daran, dass man es hier nicht mit einem realen Tatbericht, sondern einer fiktiven Erzählung zu tun hat. Einer empfehlenswerten Geschichte eines Autors, der gutes Gespür für die richtigen Wörter im richtigen Moment zeigt. Vor allem in den dunklen und stillen Momenten.
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