Einen Muttertag ohne konstruierten Weltschmerz bitte.

Eine Frau Mitte 30 steigt in die Straßenbahn ein und nimmt gegenüber von mir Platz. Unter ihrem Arm fischt sie eine Zeitung hervor und schlägt diese auf. Sie wirkt glücklich und entspannt. Der Himmel an diesem Muttertag ist blau, nur wenige Wolken ziehen vorbei. Sie liest einen Artikel, bewegt ihren Kopf dabei von links nach rechts. Während die Frau zur nächsten Seite blättert seufzt sie leise. Sie blickt kurz aus dem Fenster der Straßenbahn – es sind noch nicht viele Leute um diese Uhrzeit unterwegs. Sie liest weiter in ihrer Zeitung und seufzt erneut beim Blättern auf eine andere Seite, einen anderen Artikel. Mir scheint, dass die Frau etwas betrübt wirkt, durch etwas, dass sie soeben gelesen hat. Immer wieder schüttelt sie nun beim Lesen den Kopf, seufzt, wirkt unruhig. Nach fünfzehn Minuten erhebt sie sich, legt die Zeitung auf den freien Sitz neben sich und verlässt die Straßenbahn. Als sie hinausgeht, blickt sie mich kurz an. Der Ausdruck der Frau hat sich während der kurzen Fahrt verändert. Sie wirkt erschöpft. Nachdem die Türen schließen und die Straßenbahn wieder an Geschwindigkeit zunimmt, greife ich zur herumliegenden Zeitung und schlage sie auf. Je mehr ich darin blättere, desto verständlicher wird mir die Reaktion der Frau. Wörter haben Macht und die hier verwendeten drücken stark auf das Gemüt.

ÖSTERREICH 8. Mai 2011, Foto 1

Das Thema der Woche: Tötung von
Bin Laden und ein feierendes Amerika

Die Sonntagsausgabe der Zeitung ÖSTERREICH enthält an diesem Muttertag schwere Themen. Zuhause angekommen, beginne ich mit einem Textmarker Wörter hervorzuheben, die für einen derartig raschen Stimmungswechsel verantwortlich sein könnten. Ich werde durch die hoch frequentierte Verwendung von schockierenden Vokabeln in den Headlines schnell fündig.

Der 8. Mai 2011 in Worten und Bildern:

  • Attacke
  • Koma
  • Terror-Greis
  • Tötung
  • Absturz
  • Kampfhund
  • Waffe
  • Mord
  • Todeslenker
  • Bankomat-Sprenger
  • Tod
  • Waffen
  • Prügelmord
  • Taximörder
  • Drama
  • Flammen
  • Eingeklemmt
  • Alko-Todeslenker

Gepaart mit diesen schweren Überschriften sorgen bedeutungsähnliche Bilder für den nötigen Stimmungsaufbau: Böser Terrorist, aggresiver Hund, trauriges Kind, durch Schock gezeichnete Frau, Bilder einer Überwachungskamera, Foto eines ermordeten 16-jährigen, Luftaufnahmen von einem brennenden Gebäude und eine Frau vor dem Grab ihres getöteten Lebenspartners.

Gänge Praxis und verschwendete Energie

ÖSTERREICH 8. Mai 2011, Foto 2

Hund-Attacke, Sexmord, Trauer

Es ist natürlich rein spekulativ, den Wörtern und Bildern der Zeitung Schuld am betrübten Erscheinen der Frau zu geben. Ein Vorwurf ist dem Gratisblatt nicht zu machen. ÖSTERREICH schreit zwar von allen Tageszeitungen seit Beginn am lautesten und versucht mit immer radikaleren Titeln aufsehen zu erregen. Doch so funktionieren konstruierte Massenmedien schlichtweg. Dennoch stellen sich folgende Fragen: Wie stark beeinflußen die meist düsteren Bilder das Bewusstsein und die Stimmung der Leser? Ist die benötigte Energie um Wut gegen Mörder, Terroristen und Alkohol-Lenker aufzubauen, nicht andererorts besser aufgehoben? Packt man mit dem täglichen Griff zur Gratiszeitung nicht auch etwas Schwere auf den eigenen Rücken? Man muss kein Esoteriker sein und an die Macht des Unterbewußtseins, Suggestion oder Schwingungen glauben, um zum Schluss zu kommen, dass das Lesen von aufwirbelnden Artikeln immer etwas mit einem selbst macht. Diese Informationen samt Bilder nimmt man unweigerlich auf, manche mehr und manche weniger.

Der kontinuierliche Konsum erschwerender Medien ist in jedem Fall kritisch zu betrachten. Schreiende Zeitungen und Fernsehberichte bergen eine große Gefahr: Die auf Fakten beruhenden Tatsachen gehen oftmals durch die Konstruierung von Feindbildern und Meinungen verloren. Informationen solcher Art dürfen und sollten daher kritisch und gut dosiert zu sich genommen werden. In diesem Sinne: Einen schönen Muttertag an alle Leser, aber bitte ohne das blutende Päckchen der Schwere auf unserem Rücken. Zu lange getragen macht es resignierte Pessimisten aus uns und die haben bekanntlich noch keine Welt zu einer besseren gemacht.